Ein Sommer am Abgrund - Duisburgs Lizenzkampf 11FREUNDE

November 2024 · 18 minute read

Dienstag, 21. Mai 2013.

Sie brau­chen viel Geld, und sie haben ver­dammt wenig Zeit. Der MSV Duis­burg muss um die zwei­ein­halb Mil­lionen Euro auf­treiben – in zwei­ein­halb Tagen. Andern­falls droht die Insol­venz, der Sturz in die fünfte Liga, der Kol­laps eines Ver­eins. Mit dieser Prä­misse betreten acht Auf­sichts­rats­mit­glieder am Morgen des 21. Mai eine Loge des Duis­burger Sta­dions. Ein großer Tisch aus Mas­siv­holz füllt den Raum, daneben ein Tresen, durch große Pan­ora­ma­fenster fällt der Blick auf den Rasen.

Hier ent­scheiden acht Männer über die Lizenz­un­ter­lagen des MSV – bis zur Abga­be­frist der Deut­schen Fuß­ball-Liga sind es noch knapp 55 Stunden.

Der MSV ist Grün­dungs­mit­glied der Fuß­ball­bun­des­liga und stand vor gerade mal zwei Jahren noch im DFB-Pokal­fi­nale von Berlin. Doch das ein­ge­nom­mene Geld half nur kurz­zeitig. Der Verein muss eine jähr­liche Sta­di­onmiete von bis zu fünf Mil­lionen Euro zahlen – für einen Zweit­li­gisten eine hohe Bürde, selbst viele Bun­des­li­gisten zahlen deut­lich weniger. Dies führte dazu, dass der MSV Duis­burg bereits Ende 2012 nur mit viel Mühe und der Hilfe von 15 Geld­ge­bern die Lizenz erhielt. Einer der Geld­geber: Walter Hell­mich. 69 Jahre alt, Bau­löwe, fast eine Dekade der Patri­arch des Klubs. Er ent­scheide in Sekunden über Mil­lionen, hat Hell­mich mal gesagt. Mit Fin­ger­schnippen. 2010 gab er alle Ämter beim MSV Duis­burg ab und blieb doch all­ge­gen­wärtig. Ein Funk­tionär des MSV sagt, Hell­mich sei als Schloss­ge­spenst bei jeder Sit­zung gewesen.

Die Sit­zung beginnt mit einer Attacke

Der Raum, den die Auf­sichts­rats­mit­glieder an diesem 21. Mai betreten, ist größer und gedie­gener als die umlie­genden. Es ist die Hell­mich-Loge“. An der Wand hängt ein Foto, das den jubelnden Walter Hell­mich im Sta­dion zeigt. Neben ihm, eben­falls in Jubel­pose, steht Adolf Sau­er­land, ehe­ma­liger Ober­bür­ger­meister von Duis­burg. Die Bürger drängten ihn im Zuge der Love­pa­rade- Kata­strophe aus dem Amt. Auf dem Bild steht der Spruch: Zusam­men­kommen ist ein Beginn, Zusam­men­ar­beiten ist Erfolg.“ Es wirkt wie Hohn, denn von Zusam­men­ar­beit kann beim MSV keine Rede mehr sein. Im Verein finden Gra­ben­kämpfe statt, befeuert von Unter­las­sungs­klagen und öffent­li­chen Angriffen. Die Sit­zung beginnt wieder mit einer Attacke.

Der Geschäfts­führer Roland Kentsch ver­teilt einen Brief von Hell­mich. Kentsch, ein Diplom-Volks­wirt mit Sei­ten­scheitel und Schlips, wurde 2009 bei Arminia Bie­le­feld als Geschäfts­führer Finanzen ent­lassen, der Klub stand kurz vor der Pleite. Die Bilder glei­chen sich. In diesen tur­bu­lenten Tagen von Duis­burg ist Kentsch eine Schlüs­sel­figur. Er gilt als Pro­tegé Hell­michs, fast der Ein­zige, mit dem der Bau­un­ter­nehmer noch spricht.

Toten­gräber von innen und außen“

Der Brief hat es in sich: Die Toten­gräber von innen und außen haben ganze Arbeit geleistet, dass der MSV unmit­telbar vor der Insol­venz steht.“ Das Ver­halten der e.V.-Gremien sei chao­tisch, ohne Rück­sicht auf den Gesamt-MSV“, schreibt Hell­mich. Er will helfen, so viel wird im Laufe der Sit­zung klar, und sein altes Dar­lehen stunden, der MSV müsste dann den Kredit erst später zurück­zahlen. Doch dafür stellt Hell­mich For­de­rungen: Er will über zwei Auf­sichts­rats­posten und den Geschäfts­führer mit­be­stimmen.

Es geht jetzt nicht mehr nur um die Ret­tung des MSV, es geht um Macht und Ein­fluss­nahme.

Die Ange­grif­fenen sitzen am Tisch, einige reagieren ver­är­gert. Udo Kirmse lächelt, dabei hat Hell­mich auch ihn indi­rekt ange­griffen. Doch Kirmse hat sich an die Wut­aus­brüche gewöhnt. Er ist Prä­si­dent des ein­ge­tra­genen Ver­eins MSV Duis­burg, sitzt daher auch im Auf­sichtsrat. Ein stäm­miger Mann von über 120 Kilo mit rundem Gesicht und sonorer Stimme. Chef einer IT-Firma, 52 Jahre alt, seit 40 Jahren MSV-Fan.

Er sagt nicht Duis­burg“, son­dern Duis­burch “. Sein Ver­hältnis zu Kentsch ist unter­kühlt, Hell­mich spricht gar nicht mit ihm.
Kirmse hat einen Plan, wie der MSV von der hohen Sta­di­onmiete her­un­ter­kommen kann. Ein Sanie­rungs­kon­zept, das von MSV­Sponsor Schau­ins­land-Reisen unter­stützt und für dessen Umset­zung Geld in Aus­sicht gestellt wird. Das Ziel: Stadt und Verein kaufen der Sta­di­on­pro­jekt­ge­sell­schaft die Arena ab, die Kalt­miete soll von etwa vier Mil­lionen Euro auf weniger als die Hälfte gesenkt werden. Doch dafür ist ein Kapi­tal­schnitt not­wendig, dem Eigen­tümer, Bank und Land zustimmen müssen. Das scheint mög­lich, Kirmse und wei­tere Mit­streiter haben dafür über ein halbes Jahr Über­zeu­gungs­ar­beit geleistet. Doch eine Person hält 36 Pro­zent der Anteile an der Sta­di­on­pro­jekt­ge­sell­schaft und ist mehr als das Züng­lein an der Waage: Walter Hell­mich.

Kentsch hat mit sich selbst ver­han­delt“

Infor­miert wird er vom Geschäfts­führer der Eigen­tü­mer­ge­sell­schaft: Roland Kentsch, gleich­zeitig auch Geschäfts­führer beim MSV. Ein Funk­tionär sagt: Kentsch hat also de facto mit sich selbst ver­han­delt.“ Und Kentsch soll nicht viel von Kirmses Plan halten, son­dern auf Hell­michs Stun­dung und einen Deal mit dem Fremd­ver­markter Sport­five setzen.

In der Hell­mich-Loge“ stehen sich also zwei Frak­tionen gegen­über. Es wird dis­ku­tiert, mal im Plenum, mal in Klein­gruppen. Der Hell­mich ver­zichtet doch nie“, meint einer. Es ist Mittag, nur noch knapp 50 Stunden bis zur DFL-Dead­line. Eine Abstim­mung soll her. Sie endet mit 5:3‑Stimmen – gegen das Sanie­rungs­kon­zept. Udo Kirmse fühlt sich, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Sein Mit­streiter Thomas Maaßen erklärt seinen Rück­tritt als Auf­sichts­rats­mit­glied, auch Kirmse denkt ans Auf­geben.

Die Sit­zung endet gegen 13 Uhr. Der Geschäfts­führer Roland Kentsch soll die Anwei­sung erhalten haben, bei Hell­mich eine Ent­schär­fung seiner Bedin­gungen zu errei­chen und einen Ver­trag mit dem Ver­markter Sport­five per­fekt zu machen. Die Sig­ning fee für den MSV, ein Bonus bei Ver­trags­ab­schluss, soll im Mil­lio­nen­be­reich liegen. Die Rede ist von etwa zwei Mil­lionen Euro.

Mitt­woch, 22. Mai

Um 14.38 Uhr sorgt ein Ein­trag des Users Diplomat“ im Inter­net­forum des MSV Duis­burg für helle Auf­re­gung. Darin steht: Leider ist jetzt die Zeit gekommen, um uns bei euch zu ver­ab­schieden. Die Zeit des Diplo­maten ist vorbei und es bleibt nur, Danke zu sagen für Eure Ehr­lich­keit und Unter­stüt­zung. “ Der Ein­trag wird wenig später von den Foren­be­trei­bern gelöscht.

Hinter dem User­namen Diplomat“ ver­birgt sich Andreas Rütt­gers, Leiter Flug­reisen beim Duis­burger Unter­nehmen Schau­ins­land- Reisen. Rütt­gers war bis Dezember 2012 Kirmses Vor­gänger als MSV-Prä­si­dent, schmiss sein Amt aber nach hef­tigen Strei­tig­keiten mit Kentsch und Hell­mich hin. Er und sein Chef Gerald Kassner waren Ver­fechter des abge­lehnten Sanie­rungs­kon­zepts.

Wir brau­chen einen Schnaps“

Wäh­rend des Nach­mit­tags wird die Bot­schaft des Pos­tings deut­lich: Schau­ins­land- Reisen gibt kein zusätz­li­ches Geld mehr.
Zwei aus­ge­laugt wir­kende Herren kommen wenig später in Rütt­gers Büro, sie sagen: Wir brau­chen einen Schnaps.“ Rütt­gers orga­ni­siert ihn. Die beiden Herren sind Thomas Maaßen und Udo Kirmse.

Wäh­rend­dessen geben die Stadt­werke Duis­burg bekannt, dem MSV 700 000 Euro für For­de­rungen aus Ener­gie­lie­fe­rungen zu stunden. Ein Erfolg für den MSV, doch das Blatt wendet sich wie­derum am Abend. Da wird klar: Sport­five wird nicht das zahlen, was sich die Duis­burger vor­ge­stellt haben.

Es ist wie ein Poker­spiel. 15 Stunden vor der Dead­line fehlt dem MSV ein Betrag in sechs­stel­liger Höhe.

Don­nerstag, 23. Mai

Um acht Uhr mor­gens erfährt Udo Kirmse von der Lücke. Er ruft wieder bei Schau­ins­land-Reisen an und bespricht sich mit dem Chef. Sie ver­han­deln in acht Minuten eine neue Lösung.

Mit­tags wird es kon­kret: Andreas Rütt­gers fährt für das Unter­nehmen mit unter­schrie­benen Ver­trägen zur Geschäfts­stelle. Dort wird ihm bedeutet, im Foyer Platz zu nehmen. Der ehe­ma­lige Prä­si­dent des Ver­eins setzt sich und wartet. Er wartet ver­ge­bens. Denn um kurz vor 13 Uhr deutet sich eine andere Lösung an.

Drei Minuten vor der Dead­line

Geschäfts­führer Roland Kentsch war nicht untätig und hat sich mit Walter Hell­mich bespro­chen. Tat­säch­lich ist Hell­mich bereit, die Lücke mit einem wei­teren Dar­lehen zu schließen – diesmal ein Dar­lehen kom­plett ohne Bedin­gungen. Es soll um 600 000 Euro gehen. Bis zur Dead­line sind es noch zwei­ein­halb Stunden. Auf Nach­frage sagte Hell­mich später zu 11 FREUNDE: Das Geld kam in letzter Minute an.“

Und vieles spricht dafür: Die Lizenz­un­ter­lagen gehen, so berichten es Betei­ligte, um 15.20 Uhr an die Wirt­schafts­prüfer, um 15.27 Uhr an die DFL. Drei Minuten vor der Dead­line. Andreas Rütt­gers, der immer noch im Foyer sitzt, wird mit­ge­teilt, dass er gehen könne. Um 18 Uhr findet eine Pres­se­kon­fe­renz statt.

Roland Kentsch dankt allen Unter­stüt­zern, explizit Walter Hell­mich. Gerd Görtz, der Vor­sit­zende des Auf­sichts­rates, steht auf und sagt: Der Ein­zige, bei dem sich keiner bedankt hat, bist du, Roland. Dabei hast du den meisten Anteil am Erfolg.“ Kentsch teilt mit: Wir gehen davon aus, dass auch in der neuen Saison Pro­fi­fuß­ball in Duis­burg zu sehen ist.“

Montag, 27. Mai

Als die Ver­treter der DFL die Unter­lagen ein­sehen, schüt­teln sie die Köpfe. Es fallen die Worte dilet­tan­tisch“ und Frech­heit“.

Ein großes Pro­blem sehen sie darin, dass die Wirt­schafts­prüfer nicht genü­gend Zeit zur Ein­sicht der Unter­lagen hatten. Doch es gibt noch mehr Mängel: Ins­ge­samt han­delt es sich wohl um 15 wei­tere Punkte. Drei davon sind schwer­wie­gend. Der erste: Die Bedin­gungen von Hell­michs Dar­le­hens­stun­dung, im Auf­sichtsrat und beim Geschäfts­führer mit­zu­be­stimmen, sind in den Unter­lagen auf­ge­führt. Dabei soll der Auf­sichtsrat in einem Beschluss genau das abge­lehnt haben. Die DFL ver­bietet in ihrer Lizen­zie­rungs­ord­nung, dass ein Kredit an Bedin­gungen geknüpft ist. Außerdem darf nur der Verein Auf­sichts­räte und Geschäfts­führer bestimmen – Hell­mich aber besitzt kein Amt.

In Win­des­eile einen sechs­stel­ligen Betrag

Der zweite Grund: Durch den Deal in letzter Sekunde mit dem Ver­markter Sport­five gab es keine wei­tere Ver­wen­dung für die MSV-eigene Mar­ke­ting­ab­tei­lung. In den Lizenz­un­ter­lagen wurde die Ein­spa­rung dieser Per­so­nal­kosten ver­bucht, obwohl sie noch gar nicht voll­zogen war. Mit anderen Worten ging es um ein­ge­spartes Geld, das noch gar nicht ein­ge­spart war.

Und drit­tens: Die Ver­ant­wort­li­chen haben sich in den Unter­lagen ver­rechnet – um 364 000 Euro. Dieser Betrag fehlt nun.

Den Ver­ant­wort­li­chen beim MSV Duis­burg wird das ganze Ausmaß des Desas­ters bewusst, als sie am 27. Mai das Schreiben der DFL erhalten. Ver­eins­prä­si­dent Udo Kirmse greift zum Hörer und ruft bei Andreas Rütt­gers an. Wieder muss in Win­des­eile neues Geld auf­ge­trieben werden. Wenig später über­weist Schau­ins­land-Reisen 300 000 Euro auf ein Treu­hand­konto, das die DFL ein­sehen kann.
Geschäfts­führer Kentsch soll der DFL die voll­stän­digen Doku­mente umge­hend vor­legen. Auch über die feh­lenden 64 000 Euro. Die Lücke aus dem Rechen­fehler wurde im Nach­gang voll­ständig geschlossen “, sagt ein Funk­tionär des MSV. Der Verein erbringt den Nach­weis, dass er das feh­lende Geld schnell auf­bringen kann.

Aber: Die Abga­be­frist der DFL ist ver­stri­chen. Und es bleiben noch all die anderen Mängel.

Mitt­woch, 29. Mai

Kentsch und wei­tere MSV-Ver­treter ver­han­deln in Frank­furt mit der DFL, den Mit­ar­bei­tern wird vorher ver­si­chert: Reine Form­sache.“ Doch auch dieser Auf­tritt beein­druckt die Liga­ver­treter nicht, im Gegen­teil. Um 18.12 Uhr ver­schickt die Deut­sche Fuß­ball- Liga eine Pres­se­mit­tei­lung: Dem MSV Duis­burg wird für die kom­mende Spiel­zeit keine Zweit­li­ga­li­zenz erteilt.

Im Internet macht die Nach­richt binnen Minuten die Runde, MSV-Fans fahren spontan zum Sta­dion. In kurzer Zeit ver­sam­meln sich über 500 von ihnen vor der Arena, allen gemeinsam: Trauer, Ent­täu­schung.

Ver­ein­zelt gibt es die ersten wütenden Kom­men­tare. Als ein Kame­ra­team von Sky auf­taucht, wird es umge­hend ver­jagt. Die Stim­mung droht zu kippen. Einige Fans ver­schaffen sich Zugang zum Innern, andere zünden eine Hell­mich-Fahne an, Ben­galos und Knall­körper fliegen Rich­tung Arena.

Als die Polizei eine Hun­dert­schaft ein­setzt, ist die Situa­tion schnell wieder unter Kon­trolle. Übrig bleiben Fas­sungs­lo­sig­keit und Wut. Und die Frage: Wer trägt die Schuld?

Don­nerstag, 30. Mai

Kentsch ist für öffent­liche Stel­lung­nahmen nicht mehr zu errei­chen, der Vor­stand des MSV beschließt, um 16 Uhr vor die Masse zu treten. Als um kurz vor vier rund 2000 Men­schen vor dem Sta­dion stehen, hat der Sicher­heits­dienst noch kein grünes Licht gegeben. 40 Minuten müssen die Anhänger warten, bis Udo Kirmse und seine Vor­stands­kol­legen mit einem Megafon in der Hand aus der Arena treten. Dass sie eben­falls kom­plett von der Situa­tion über­rollt wurden, kann man sehen und hören. Durch das leise Megafon ist zu ver­nehmen: Wir können auch nicht viel sagen, es han­delt sich um ein schwe­bendes Ver­fahren.“ Duis­burg legt Ein­spruch ein und geht vors DFB-Schieds­ge­richt.

Udo Kirmse und seine Mit­streiter müssen stell­ver­tre­tend für andere gerade stehen. Von ver­höh­nenden Gesängen begleitet, zieht sich der Ver­eins­vor­stand ins Sta­dion zurück. Sebas­tian Runde steht kurz danach an einem Steh­tisch. Der erst 26 Jahre alte Stu­dent wurde als Inter­es­sens­ver­treter der Fans in den Vor­stand berufen, einem Mil­lio­nen­pu­blikum wurde er bekannt, als er die Sen­dung Der klügste Deut­sche“ gewann.

Kurz nachdem ihn die Fans in Grund und Boden gepfiffen haben, sagt er im Inneren der Arena: Viel­leicht war die Zeit für so etwas noch nicht reif“. Er greift nach einem Wasser. Das ist unfassbar“, sagt er nach­denk­lich und starrt durch die Glas­front auf die MSV-Fans. Nie­mand findet eine Ant­wort auf die Frage, was tat­säch­lich pas­siert ist. Und was das für den MSV Duis­burg bedeutet.

Lesen Sie auf den fol­genden Seiten: Wie die Fans in der dunklen Stunde zu ihrem Verein standen und der MSV sich mit einem Kraftakt in die dritte Liga ret­tete.

Dienstag, 4. Juni

Vier Tage befinden sich die Fans des MSV Duis­burg im Schwe­be­zu­stand zwi­schen Trauer und Wut. Was den Anhän­gern hilft: Seit dem Lizenz­entzug schlägt dem MSV bun­des­weit Soli­da­rität ent­gegen. In sozialen Netz­werken for­miert sich die Fan­in­itia­tive Streifen zeigen“, die erste Aktionen plant und über das Internet bewirbt. Als sich am 4. Juni um kurz vor 19 Uhr die Fans vor dem Duis­burger Haupt­bahnhof zu einem Marsch zum Sta­dion ver­sam­meln, rechnet die Polizei mit maximal 1000 Teil­neh­mern, 600 wurden offi­ziell ange­meldet.

Bun­des­weite Soli­da­rität

Um 19.02 Uhr setzt sich der Tross in Bewe­gung, vor­neweg mar­schieren Fans, die ein Banner vor sich her­tragen. Ewig treu“ steht dort geschrieben, und was wäh­rend des Fan­marschs plötz­lich klar wird: Es sind mehr als 1000 Leute. Viel mehr. Schon auf halber Strecke gibt die Polizei die Zahl von 6000 Teil­neh­mern durch.

Bevor die Menge auf die Straße zum Sta­dion ein­biegt, bleibt die vor­derste Reihe stehen und wartet auf die Nach­rü­ckenden. Erst als alle wieder zusammen sind, geht es weiter, und es wirkt wie eine Wie­der­ge­burt des MSV, als kurz vor dem Ziel in einer Unter­füh­rung der Gesang Mei­de­ri­cher SV“ erschallt. 6000 Men­schen beweisen, dass der Verein noch lange nicht tot ist.

Dienstag, 11. Juni

Nachdem der MSV die offi­zi­elle Begrün­dung der DFLer­halten hat, ist den meisten Funk­tio­nären klar, dass es vor dem Schieds­ge­richt eng wird. Nach außen hin gibt man sich opti­mis­tisch, doch die Pla­nungen für die Dritte Liga werden par­allel for­ciert. Es soll ein Signal an die Spon­soren gehen. Am 11. Juni beschließt der Ver­eins­vor­stand die Abbe­ru­fung von Roland Kentsch. Zwei Tage später wird die Ent­schei­dung ver­öf­fent­licht.

Kentsch? Ein hohes Maß an Selbst­über­schät­zung“

Die Frage bleibt, wie Kentsch einen Lizenz­an­trag bei der DFL ein­rei­chen konnte, der in vielen Punkten wohl ekla­tant gegen die DFL-Sat­zungen ver­stieß. Die Regeln mögen Außen­ste­henden nicht viel sagen.

Kentsch aller­dings müsste sie gekannt haben, als er die Unter­lagen ein­reichte. Er ist Mit­glied des DFL-Auf­sichts­rates und stell­ver­tre­tender Vor­sit­zender der Bun­des­liga- Stif­tung, die von der DFL­ge­gründet wurde. Warum also diese Form? Ein Funk­tionär sagt: Da spielt ein hohes Maß an Selbst­über­schät­zung eine Rolle.“ Roland Kentsch ließ mehr­fache Nach­fragen von 11 FREUNDE unbe­ant­wortet.

Dienstag, 18. Juni

Über drei Wochen haben die Fans mitt­ler­weile Aktionen auf die Beine gestellt. Rund um das Sta­dion ent­wi­ckelt sich eine Camp- Atmo­sphäre mit Mahn­wa­chen rund um die Uhr, Lesungen und Kon­zerten. Eine Men­schen­kette zieht sich vom Rat­haus bis zum Sta­dion. Zu Besuch kommen in dieser Zeit etliche MSV-Legenden. Günter Preuß, der Kapitän der Vize­meister-Mann­schaft von 1964, erscheint bei­nahe täg­lich. Michael Tön­nies, Schütze des schnellsten Hat­tricks der Bun­des­li­ga­ge­schichte, hat seinen ersten öffent­li­chen Auf­tritt nach einer Lun­gen­trans­plan­ta­tion. Inner­halb Duis­burgs ist der MSV das beherr­schende Thema, und worauf lange hin­ge­ar­beitet wurde, was aber nie­mals klappen sollte, voll­zieht sich nun in der schwär­zesten Stunde von ganz alleine:
Fans, Stadt und Verein wachsen zusammen.

Als sich am 18. Juni knapp 2000 Fans vor der Arena ver­sam­meln und ein Lich­ter­meer von Kerzen ent­zünden, nimmt Michael Koch, Mit­or­ga­ni­sator des Akti­ons­bünd­nisses Streifen zeigen“ das Mikro und sagt: Der MSV war noch nie so sexy wie heute.“

Mitt­woch, 19. Juni

Das Stän­dige Schieds­ge­richt weist die Klage des MSV zurück. Es bleibt dabei: Der MSV erhält keine Lizenz für die zweite Liga.

Für Udo Kirmse, den neuen Geschäfts­führer Björn Sche­fer­ling und den neuen Auf­sichts­rats­vor­sit­zenden Jürgen Mar­bach beginnt ein neuer Wett­lauf gegen die Zeit. Es geht um die Lizenz für die Dritte Liga. Wer zynisch ist, könnte sagen: Udo Kirmse erreicht Level 2. Ging es Ende Mai um circa zwei­ein­halb Mil­lionen Euro in zwei­ein­halb Tagen, so müssen nun in zwei Wochen um die 16 Mil­lionen Euro her. Durch das Abrut­schen in die Dritte Liga bre­chen allein vier­ein­halb Mil­lionen Euro Fern­seh­gelder weg, zudem bleibt das Pro­blem mit der hohen Sta­di­onmiete.

16 Mil­lionen in zwei Wochen

Doch das ist nicht alles: Wir müssen jeden Stein umdrehen. Und unter jedem sitzt eine neue Kröte“, befindet Kirmses Team. Denn ihnen wird klar, dass ein Groß­teil der Spon­so­ren­ver­träge für die Dritte Liga nicht gültig ist. Das war schon eine gewisse Hoch­nä­sig­keit – nach dem Motto: Mit Dritter Liga haben wir ohnehin nichts zu tun“, sagt Jürgen Mar­bach dazu später der Rhei­ni­schen Post“. Und nicht nur das: Auch die meisten Spie­ler­ver­träge sind null und nichtig. Nach und nach wan­dern die Kicker ab, der Kreis für den Trainer Kosta Run­jaic wird immer kleiner. Nie­mand weiß, wie es wei­ter­geht. Mit­ar­beiter der Geschäfts­stelle warten auf ihr Gehalt.

Wenn es mit der Lizenz für die Dritte Liga nicht klappt, droht die Insol­venz.

Wer nicht mit­zieht, den boxe ich weg“

Einen Tag nach der Ent­schei­dung des Schieds­ge­richtes stellt sich Udo Kirmse vor die Mit­ar­beiter und hält eine Rede. Er sagt: Jetzt kämpfen wir alle für die Dritte Liga, und wer nicht mit­zieht, den boxe ich weg.“ Von da an trägt Kirmse den Spitz­namen Klit­schko“. Er selbst gönnt sich wenig Schlaf. Wie ein Sponsor berichtet, nimmt Kirmse in diesen Tagen selbst Anrufe um zwei Uhr nachts ent­gegen. Da steigt er gerade aus der Sauna. Er musste nach­denken.

Am Freitag teilt die Stadt Duis­burg mit, dass sie auf Teil­rück­zah­lungen ihrer Dar­lehen pocht. Die Zusagen galten explizit nur für die zweite Liga. Die For­de­rungen werden jetzt fällig“, sagt ein Spre­cher der Stadt der NRZ“. Der MSV müsste dann auf min­des­tens 1,3 Mil­lionen Euro ver­zichten. Es sind noch zwei Wochen bis zur nächsten Dead­line. Ein DFB-Ver­ant­wort­li­cher fragt Kirmse und sein Team: Wollen Sie sich das alles wirk­lich antun?“

Sonntag, 23. Juni

Das gesamte Wochen­ende über hat die MSV-Spitze zusammen mit Wirt­schafts­prü­fern ein Gläu­bi­ger­mo­ra­to­rium vor­be­reitet.
Am Sonntag um 17 Uhr treffen sich dann 60 Per­sonen bei den Stadt­werken. Dar­unter Ver­treter der Stadt, des NRW-Wirt­schafts­mi­nis­te­riums, der HSH Nord­bank. Dabei erklären sich alle Par­teien bereit, auf einen Teil ihrer For­de­rungen zu ver­zichten. Außerdem springt Schau­ins­land-Reisen nun als Investor ein. Udo Kirmse spricht von einer ersten Berg­etappe“. Die Euphorie ist groß, es scheint, als sei das nötige Geld auf­ge­trieben. Der Weg für einen Neu­start ist frei“, heißt es am Dienstag auf der Home­page des Ver­eins.

Freitag, 28. Juni

Der DFB ist mit den ein­ge­schickten Unter­lagen des MSV nicht zufrieden. In einem Schreiben teilt der Ver­band seine Bean­stan­dungen mit. Jetzt ist Udo Kirmse aus­ge­laugt, er läuft eine Stunde lang durchs leere Duis­burger Sta­dion. Auch an diesem Tag haben sich wieder viele Fans davor zur Mahn­wache ein­ge­funden. Die Zukunft ist unge­wiss.

Der MSV Duis­burg sagt das Test­spiel gegen For­tuna Köln ab, orga­ni­siert statt­dessen ein Spiel der Tra­di­ti­onself gegen Fans.
Die Fan­in­itia­tive Streifen zeigen“ ruft zu einer Trotz­re­ak­tion auf: Das Ein­tritts­geld kann der MSV drin­gend gebrau­chen und wir setzen damit ein Zei­chen, dass wir uns vom DFB nicht in die Suppe spu­cken lassen. Also kommt Sonntag zur Wes­t­en­der­straße! “ Über 1500 Fans pil­gern hin, sie spenden dem Verein allein an diesem Tag knapp 7000 Euro.

Der Trainer tritt zurück

Trainer Kosta Run­jaic kann so viel Geduld nicht mehr auf­bringen. Am Sonn­tag­abend sickert durch, dass er sein Amt nie­der­legt. Es wird ihm zu eng. In drei Wochen startet die Saison, der MSV hat keine Lizenz, wenig Spieler und keinen Trainer. Die WAZ“ schreibt: Beim MSV steht im Moment nur eins fest: die Liga-Zuge­hö­rig­keit des Vor­standes. Kreis­liga!“ Der Vor­stand um Udo Kirmse ist nie­der­ge­schmet­tert, doch genau in dieser Phase pas­sieren wun­der­same Dinge. Aus­ge­rechnet DFB-Ver­treter spre­chen dem Prä­si­denten Mut zu und zeigen in einem langen Tele­fonat, auf welche Nach­bes­se­rungen es ankommt. Und: Schalke 04, Borussia Dort­mund und Bayern Mün­chen melden sich unauf­ge­for­dert beim MSV und bieten Hilfe.

Außerdem bleiben die Stadt­werke Duis­burg als Haupt­sponsor an Bord. Kirmse spricht von der zweiten Berg­etappe. Die Ziel­linie ist in Sicht­weite.“ Don­nerstag, 4. Juli Am Freitag um 15.30 Uhr läuft die DFB-Frist für die Duis­burger ab. Und wieder wird es hek­tisch. Die Sta­di­on­pro­jekt­ge­sell­schaft will dem MSV die Miete für die neue Saison stunden, doch der DFB for­dert nach der Abbe­ru­fung von Roland Kentsch einen end­gül­tigen, ver­tre­tungs­be­rech­tigten Geschäfts­führer.

Am Abend vor Lizenz­ab­gabe wird mit dem Rechts­an­walt Dr. Jochen Vogel ein neuer Geschäfts­führer der Eigen­tü­mer­ge­sell­schaft ein­ge­tragen. Die Dru­cker rotieren. Ver­träge werden noch­mals aus­ge­druckt und neu unter­schrieben. For­ma­lien in der ent­schei­denden Phase, und wie schon den ganzen Sommer über fehlt auch jetzt noch Geld. Der MSV muss dem DFB nach­weisen, wie er eine letzte Finan­zie­rungs­lücke schließen will. Am Don­nerstag gelingt ein wei­terer wich­tiger Schritt: Städ­ti­sche Betriebe halten Sit­zungen ab und beschließen, den MSV durch Stun­dungen wei­terhin zu ent­lasten. Es soll um einen sechs­stel­ligen Betrag gehen. Die zuge­sagten Hilfen mit Freund­schafts­spielen aus Dort­mund und Mün­chen moti­vieren Inves­toren, die Lücke zu schließen.

Hilfe aus Mün­chen, Dort­mund und Schalke

Aller­dings bleibt ein zweites Pro­blem: Der DFB ver­langt eine Sicher­heits­re­serve, der MSV Duis­burg muss dafür sorgen, dass Geld auf ein Treu­hand­konto über­wiesen wird oder Bürg­schaften hin­ter­legt werden.

Es geht um meh­rere Mil­lionen Euro.

Der Verein bra­cuht Hilfe auf den letzten Metern. An diesem Punkt kommt Schalke 04 ins Spiel – vor zwei Jahren Gegner der Duis­burger im Pokal­end­spiel und unter MSV-Fans nicht gerade wohl­ge­lit­tener Revier­ri­vale.

Anders als beim BVB und den Bayern kann Schalke allein durch einen Vor­stands­be­schluss han­deln und kurz­fristig Geld über­weisen. Die Rhei­ni­sche Post“ schreibt später, dass am Freitag vor der Lizenz­ab­gabe eine Lücke von 500 000 Euro unter anderem auch dank der Schalker Hilfe geschlossen wurde. Das alles nur kurz vor der Dead­line um 15.30 Uhr. Um 16.14 Uhr meldet der Klub, dass alle Unter­lagen voll­ständig und frist­ge­recht ein­ge­reicht wurden.

Die Ent­schei­dung des DFB-Aus­schusses fällt aber erst nach dem Wochen­ende.

Montag, 7. Juli

Eine Vier­tel­stunde lang dürfen die Duis­burger vor dem Aus­schuss in Stutt­gart vor­spre­chen, dann müssen sie über eine Stunde draußen warten.

Was sie bis dato geleistet haben, kommt einer Her­ku­les­auf­gabe gleich: Über 100 Spon­soren mussten kon­tak­tiert und zur wei­teren Zusam­men­ar­beit bewegt werden.

Die zweite Liga hat der MSV nicht sport­lich ver­spielt – und auch nicht finan­ziell, das Geld wäre zusam­men­ge­kommen.
Die Gründe waren Ego­ma­nien, Schlam­pig­keiten und Gra­ben­kämpfe. Ein­zelne zockten bis zur letzten Minute.

Für die Dritte Liga kämpften sie dann neu auf­ge­stellt und gemeinsam bis zur Erschöp­fung. Und das wird belohnt: Um 14 Uhr schreibt Kirmse eine SMS an die Mit­ar­beiter. Mit nur einem Wort. Drin!“ Der MSV erhält die Lizenz.

Eine Erlö­sung.

Fans ziehen sich Tri­kots über, hängen Schals aus dem Auto, allein bis zum Abend kaufen 600 von ihnen eine Dau­er­karte. Es wirkt wie eine Auf­stiegs­feier. Das Team um Kirmse und Björn Sche­fer­ling wird bei der Rück­kehr am Bahnhof mit Sekt und Rosen emp­fangen, um kurz nach 19 Uhr treten sie vor die fei­ernde Masse. Heute ist es nicht vorbei, heute geht es erst richtig los“, sagen sie. Klit­schko“ Kirmse bekommt Box­hand­schuhe über­reicht. 2000 Fans klat­schen begeis­tert.

Dann singen sie: Eine neue Liga ist wie ein neues Leben.“

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