
Dienstag, 21. Mai 2013.
Sie brauchen viel Geld, und sie haben verdammt wenig Zeit. Der MSV Duisburg muss um die zweieinhalb Millionen Euro auftreiben – in zweieinhalb Tagen. Andernfalls droht die Insolvenz, der Sturz in die fünfte Liga, der Kollaps eines Vereins. Mit dieser Prämisse betreten acht Aufsichtsratsmitglieder am Morgen des 21. Mai eine Loge des Duisburger Stadions. Ein großer Tisch aus Massivholz füllt den Raum, daneben ein Tresen, durch große Panoramafenster fällt der Blick auf den Rasen.
Hier entscheiden acht Männer über die Lizenzunterlagen des MSV – bis zur Abgabefrist der Deutschen Fußball-Liga sind es noch knapp 55 Stunden.
Der MSV ist Gründungsmitglied der Fußballbundesliga und stand vor gerade mal zwei Jahren noch im DFB-Pokalfinale von Berlin. Doch das eingenommene Geld half nur kurzzeitig. Der Verein muss eine jährliche Stadionmiete von bis zu fünf Millionen Euro zahlen – für einen Zweitligisten eine hohe Bürde, selbst viele Bundesligisten zahlen deutlich weniger. Dies führte dazu, dass der MSV Duisburg bereits Ende 2012 nur mit viel Mühe und der Hilfe von 15 Geldgebern die Lizenz erhielt. Einer der Geldgeber: Walter Hellmich. 69 Jahre alt, Baulöwe, fast eine Dekade der Patriarch des Klubs. Er entscheide in Sekunden über Millionen, hat Hellmich mal gesagt. Mit Fingerschnippen. 2010 gab er alle Ämter beim MSV Duisburg ab und blieb doch allgegenwärtig. Ein Funktionär des MSV sagt, Hellmich sei als Schlossgespenst bei jeder Sitzung gewesen.
Die Sitzung beginnt mit einer Attacke
Der Raum, den die Aufsichtsratsmitglieder an diesem 21. Mai betreten, ist größer und gediegener als die umliegenden. Es ist die „Hellmich-Loge“. An der Wand hängt ein Foto, das den jubelnden Walter Hellmich im Stadion zeigt. Neben ihm, ebenfalls in Jubelpose, steht Adolf Sauerland, ehemaliger Oberbürgermeister von Duisburg. Die Bürger drängten ihn im Zuge der Loveparade- Katastrophe aus dem Amt. Auf dem Bild steht der Spruch: „Zusammenkommen ist ein Beginn, Zusammenarbeiten ist Erfolg.“ Es wirkt wie Hohn, denn von Zusammenarbeit kann beim MSV keine Rede mehr sein. Im Verein finden Grabenkämpfe statt, befeuert von Unterlassungsklagen und öffentlichen Angriffen. Die Sitzung beginnt wieder mit einer Attacke.
Der Geschäftsführer Roland Kentsch verteilt einen Brief von Hellmich. Kentsch, ein Diplom-Volkswirt mit Seitenscheitel und Schlips, wurde 2009 bei Arminia Bielefeld als Geschäftsführer Finanzen entlassen, der Klub stand kurz vor der Pleite. Die Bilder gleichen sich. In diesen turbulenten Tagen von Duisburg ist Kentsch eine Schlüsselfigur. Er gilt als Protegé Hellmichs, fast der Einzige, mit dem der Bauunternehmer noch spricht.
„Totengräber von innen und außen“
Der Brief hat es in sich: „Die Totengräber von innen und außen haben ganze Arbeit geleistet, dass der MSV unmittelbar vor der Insolvenz steht.“ Das Verhalten der e.V.-Gremien sei „chaotisch, ohne Rücksicht auf den Gesamt-MSV“, schreibt Hellmich. Er will helfen, so viel wird im Laufe der Sitzung klar, und sein altes Darlehen stunden, der MSV müsste dann den Kredit erst später zurückzahlen. Doch dafür stellt Hellmich Forderungen: Er will über zwei Aufsichtsratsposten und den Geschäftsführer mitbestimmen.
Es geht jetzt nicht mehr nur um die Rettung des MSV, es geht um Macht und Einflussnahme.
Die Angegriffenen sitzen am Tisch, einige reagieren verärgert. Udo Kirmse lächelt, dabei hat Hellmich auch ihn indirekt angegriffen. Doch Kirmse hat sich an die Wutausbrüche gewöhnt. Er ist Präsident des eingetragenen Vereins MSV Duisburg, sitzt daher auch im Aufsichtsrat. Ein stämmiger Mann von über 120 Kilo mit rundem Gesicht und sonorer Stimme. Chef einer IT-Firma, 52 Jahre alt, seit 40 Jahren MSV-Fan.
Er sagt nicht „Duisburg“, sondern „Duisburch “. Sein Verhältnis zu Kentsch ist unterkühlt, Hellmich spricht gar nicht mit ihm.
Kirmse hat einen Plan, wie der MSV von der hohen Stadionmiete herunterkommen kann. Ein Sanierungskonzept, das von MSVSponsor Schauinsland-Reisen unterstützt und für dessen Umsetzung Geld in Aussicht gestellt wird. Das Ziel: Stadt und Verein kaufen der Stadionprojektgesellschaft die Arena ab, die Kaltmiete soll von etwa vier Millionen Euro auf weniger als die Hälfte gesenkt werden. Doch dafür ist ein Kapitalschnitt notwendig, dem Eigentümer, Bank und Land zustimmen müssen. Das scheint möglich, Kirmse und weitere Mitstreiter haben dafür über ein halbes Jahr Überzeugungsarbeit geleistet. Doch eine Person hält 36 Prozent der Anteile an der Stadionprojektgesellschaft und ist mehr als das Zünglein an der Waage: Walter Hellmich.
„Kentsch hat mit sich selbst verhandelt“
Informiert wird er vom Geschäftsführer der Eigentümergesellschaft: Roland Kentsch, gleichzeitig auch Geschäftsführer beim MSV. Ein Funktionär sagt: „Kentsch hat also de facto mit sich selbst verhandelt.“ Und Kentsch soll nicht viel von Kirmses Plan halten, sondern auf Hellmichs Stundung und einen Deal mit dem Fremdvermarkter Sportfive setzen.
In der „Hellmich-Loge“ stehen sich also zwei Fraktionen gegenüber. Es wird diskutiert, mal im Plenum, mal in Kleingruppen. „Der Hellmich verzichtet doch nie“, meint einer. Es ist Mittag, nur noch knapp 50 Stunden bis zur DFL-Deadline. Eine Abstimmung soll her. Sie endet mit 5:3‑Stimmen – gegen das Sanierungskonzept. Udo Kirmse fühlt sich, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Sein Mitstreiter Thomas Maaßen erklärt seinen Rücktritt als Aufsichtsratsmitglied, auch Kirmse denkt ans Aufgeben.
Die Sitzung endet gegen 13 Uhr. Der Geschäftsführer Roland Kentsch soll die Anweisung erhalten haben, bei Hellmich eine Entschärfung seiner Bedingungen zu erreichen und einen Vertrag mit dem Vermarkter Sportfive perfekt zu machen. Die Signing fee für den MSV, ein Bonus bei Vertragsabschluss, soll im Millionenbereich liegen. Die Rede ist von etwa zwei Millionen Euro.
Mittwoch, 22. Mai
Um 14.38 Uhr sorgt ein Eintrag des Users „Diplomat“ im Internetforum des MSV Duisburg für helle Aufregung. Darin steht: „Leider ist jetzt die Zeit gekommen, um uns bei euch zu verabschieden. Die Zeit des Diplomaten ist vorbei und es bleibt nur, Danke zu sagen für Eure Ehrlichkeit und Unterstützung. “ Der Eintrag wird wenig später von den Forenbetreibern gelöscht.
Hinter dem Usernamen „Diplomat“ verbirgt sich Andreas Rüttgers, Leiter Flugreisen beim Duisburger Unternehmen Schauinsland- Reisen. Rüttgers war bis Dezember 2012 Kirmses Vorgänger als MSV-Präsident, schmiss sein Amt aber nach heftigen Streitigkeiten mit Kentsch und Hellmich hin. Er und sein Chef Gerald Kassner waren Verfechter des abgelehnten Sanierungskonzepts.
„Wir brauchen einen Schnaps“
Während des Nachmittags wird die Botschaft des Postings deutlich: Schauinsland- Reisen gibt kein zusätzliches Geld mehr.
Zwei ausgelaugt wirkende Herren kommen wenig später in Rüttgers Büro, sie sagen: „Wir brauchen einen Schnaps.“ Rüttgers organisiert ihn. Die beiden Herren sind Thomas Maaßen und Udo Kirmse.
Währenddessen geben die Stadtwerke Duisburg bekannt, dem MSV 700 000 Euro für Forderungen aus Energielieferungen zu stunden. Ein Erfolg für den MSV, doch das Blatt wendet sich wiederum am Abend. Da wird klar: Sportfive wird nicht das zahlen, was sich die Duisburger vorgestellt haben.
Es ist wie ein Pokerspiel. 15 Stunden vor der Deadline fehlt dem MSV ein Betrag in sechsstelliger Höhe.
Donnerstag, 23. Mai
Um acht Uhr morgens erfährt Udo Kirmse von der Lücke. Er ruft wieder bei Schauinsland-Reisen an und bespricht sich mit dem Chef. Sie verhandeln in acht Minuten eine neue Lösung.
Mittags wird es konkret: Andreas Rüttgers fährt für das Unternehmen mit unterschriebenen Verträgen zur Geschäftsstelle. Dort wird ihm bedeutet, im Foyer Platz zu nehmen. Der ehemalige Präsident des Vereins setzt sich und wartet. Er wartet vergebens. Denn um kurz vor 13 Uhr deutet sich eine andere Lösung an.
Drei Minuten vor der Deadline
Geschäftsführer Roland Kentsch war nicht untätig und hat sich mit Walter Hellmich besprochen. Tatsächlich ist Hellmich bereit, die Lücke mit einem weiteren Darlehen zu schließen – diesmal ein Darlehen komplett ohne Bedingungen. Es soll um 600 000 Euro gehen. Bis zur Deadline sind es noch zweieinhalb Stunden. Auf Nachfrage sagte Hellmich später zu 11 FREUNDE: „Das Geld kam in letzter Minute an.“
Und vieles spricht dafür: Die Lizenzunterlagen gehen, so berichten es Beteiligte, um 15.20 Uhr an die Wirtschaftsprüfer, um 15.27 Uhr an die DFL. Drei Minuten vor der Deadline. Andreas Rüttgers, der immer noch im Foyer sitzt, wird mitgeteilt, dass er gehen könne. Um 18 Uhr findet eine Pressekonferenz statt.
Roland Kentsch dankt allen Unterstützern, explizit Walter Hellmich. Gerd Görtz, der Vorsitzende des Aufsichtsrates, steht auf und sagt: „Der Einzige, bei dem sich keiner bedankt hat, bist du, Roland. Dabei hast du den meisten Anteil am Erfolg.“ Kentsch teilt mit: „Wir gehen davon aus, dass auch in der neuen Saison Profifußball in Duisburg zu sehen ist.“
Montag, 27. Mai
Als die Vertreter der DFL die Unterlagen einsehen, schütteln sie die Köpfe. Es fallen die Worte „dilettantisch“ und „Frechheit“.
Ein großes Problem sehen sie darin, dass die Wirtschaftsprüfer nicht genügend Zeit zur Einsicht der Unterlagen hatten. Doch es gibt noch mehr Mängel: Insgesamt handelt es sich wohl um 15 weitere Punkte. Drei davon sind schwerwiegend. Der erste: Die Bedingungen von Hellmichs Darlehensstundung, im Aufsichtsrat und beim Geschäftsführer mitzubestimmen, sind in den Unterlagen aufgeführt. Dabei soll der Aufsichtsrat in einem Beschluss genau das abgelehnt haben. Die DFL verbietet in ihrer Lizenzierungsordnung, dass ein Kredit an Bedingungen geknüpft ist. Außerdem darf nur der Verein Aufsichtsräte und Geschäftsführer bestimmen – Hellmich aber besitzt kein Amt.
In Windeseile einen sechsstelligen Betrag
Der zweite Grund: Durch den Deal in letzter Sekunde mit dem Vermarkter Sportfive gab es keine weitere Verwendung für die MSV-eigene Marketingabteilung. In den Lizenzunterlagen wurde die Einsparung dieser Personalkosten verbucht, obwohl sie noch gar nicht vollzogen war. Mit anderen Worten ging es um eingespartes Geld, das noch gar nicht eingespart war.
Und drittens: Die Verantwortlichen haben sich in den Unterlagen verrechnet – um 364 000 Euro. Dieser Betrag fehlt nun.
Den Verantwortlichen beim MSV Duisburg wird das ganze Ausmaß des Desasters bewusst, als sie am 27. Mai das Schreiben der DFL erhalten. Vereinspräsident Udo Kirmse greift zum Hörer und ruft bei Andreas Rüttgers an. Wieder muss in Windeseile neues Geld aufgetrieben werden. Wenig später überweist Schauinsland-Reisen 300 000 Euro auf ein Treuhandkonto, das die DFL einsehen kann.
Geschäftsführer Kentsch soll der DFL die vollständigen Dokumente umgehend vorlegen. Auch über die fehlenden 64 000 Euro. „Die Lücke aus dem Rechenfehler wurde im Nachgang vollständig geschlossen “, sagt ein Funktionär des MSV. Der Verein erbringt den Nachweis, dass er das fehlende Geld schnell aufbringen kann.
Aber: Die Abgabefrist der DFL ist verstrichen. Und es bleiben noch all die anderen Mängel.
Mittwoch, 29. Mai
Kentsch und weitere MSV-Vertreter verhandeln in Frankfurt mit der DFL, den Mitarbeitern wird vorher versichert: „Reine Formsache.“ Doch auch dieser Auftritt beeindruckt die Ligavertreter nicht, im Gegenteil. Um 18.12 Uhr verschickt die Deutsche Fußball- Liga eine Pressemitteilung: Dem MSV Duisburg wird für die kommende Spielzeit keine Zweitligalizenz erteilt.
Im Internet macht die Nachricht binnen Minuten die Runde, MSV-Fans fahren spontan zum Stadion. In kurzer Zeit versammeln sich über 500 von ihnen vor der Arena, allen gemeinsam: Trauer, Enttäuschung.
Vereinzelt gibt es die ersten wütenden Kommentare. Als ein Kamerateam von Sky auftaucht, wird es umgehend verjagt. Die Stimmung droht zu kippen. Einige Fans verschaffen sich Zugang zum Innern, andere zünden eine Hellmich-Fahne an, Bengalos und Knallkörper fliegen Richtung Arena.
Als die Polizei eine Hundertschaft einsetzt, ist die Situation schnell wieder unter Kontrolle. Übrig bleiben Fassungslosigkeit und Wut. Und die Frage: Wer trägt die Schuld?
Donnerstag, 30. Mai
Kentsch ist für öffentliche Stellungnahmen nicht mehr zu erreichen, der Vorstand des MSV beschließt, um 16 Uhr vor die Masse zu treten. Als um kurz vor vier rund 2000 Menschen vor dem Stadion stehen, hat der Sicherheitsdienst noch kein grünes Licht gegeben. 40 Minuten müssen die Anhänger warten, bis Udo Kirmse und seine Vorstandskollegen mit einem Megafon in der Hand aus der Arena treten. Dass sie ebenfalls komplett von der Situation überrollt wurden, kann man sehen und hören. Durch das leise Megafon ist zu vernehmen: „Wir können auch nicht viel sagen, es handelt sich um ein schwebendes Verfahren.“ Duisburg legt Einspruch ein und geht vors DFB-Schiedsgericht.
Udo Kirmse und seine Mitstreiter müssen stellvertretend für andere gerade stehen. Von verhöhnenden Gesängen begleitet, zieht sich der Vereinsvorstand ins Stadion zurück. Sebastian Runde steht kurz danach an einem Stehtisch. Der erst 26 Jahre alte Student wurde als Interessensvertreter der Fans in den Vorstand berufen, einem Millionenpublikum wurde er bekannt, als er die Sendung „Der klügste Deutsche“ gewann.
Kurz nachdem ihn die Fans in Grund und Boden gepfiffen haben, sagt er im Inneren der Arena: „Vielleicht war die Zeit für so etwas noch nicht reif“. Er greift nach einem Wasser. „Das ist unfassbar“, sagt er nachdenklich und starrt durch die Glasfront auf die MSV-Fans. Niemand findet eine Antwort auf die Frage, was tatsächlich passiert ist. Und was das für den MSV Duisburg bedeutet.
Lesen Sie auf den folgenden Seiten: Wie die Fans in der dunklen Stunde zu ihrem Verein standen und der MSV sich mit einem Kraftakt in die dritte Liga rettete.
Dienstag, 4. Juni
Vier Tage befinden sich die Fans des MSV Duisburg im Schwebezustand zwischen Trauer und Wut. Was den Anhängern hilft: Seit dem Lizenzentzug schlägt dem MSV bundesweit Solidarität entgegen. In sozialen Netzwerken formiert sich die Faninitiative „Streifen zeigen“, die erste Aktionen plant und über das Internet bewirbt. Als sich am 4. Juni um kurz vor 19 Uhr die Fans vor dem Duisburger Hauptbahnhof zu einem Marsch zum Stadion versammeln, rechnet die Polizei mit maximal 1000 Teilnehmern, 600 wurden offiziell angemeldet.
Bundesweite Solidarität
Um 19.02 Uhr setzt sich der Tross in Bewegung, vorneweg marschieren Fans, die ein Banner vor sich hertragen. „Ewig treu“ steht dort geschrieben, und was während des Fanmarschs plötzlich klar wird: Es sind mehr als 1000 Leute. Viel mehr. Schon auf halber Strecke gibt die Polizei die Zahl von 6000 Teilnehmern durch.
Bevor die Menge auf die Straße zum Stadion einbiegt, bleibt die vorderste Reihe stehen und wartet auf die Nachrückenden. Erst als alle wieder zusammen sind, geht es weiter, und es wirkt wie eine Wiedergeburt des MSV, als kurz vor dem Ziel in einer Unterführung der Gesang „Meidericher SV“ erschallt. 6000 Menschen beweisen, dass der Verein noch lange nicht tot ist.
Dienstag, 11. Juni
Nachdem der MSV die offizielle Begründung der DFLerhalten hat, ist den meisten Funktionären klar, dass es vor dem Schiedsgericht eng wird. Nach außen hin gibt man sich optimistisch, doch die Planungen für die Dritte Liga werden parallel forciert. Es soll ein Signal an die Sponsoren gehen. Am 11. Juni beschließt der Vereinsvorstand die Abberufung von Roland Kentsch. Zwei Tage später wird die Entscheidung veröffentlicht.
Kentsch? „Ein hohes Maß an Selbstüberschätzung“
Die Frage bleibt, wie Kentsch einen Lizenzantrag bei der DFL einreichen konnte, der in vielen Punkten wohl eklatant gegen die DFL-Satzungen verstieß. Die Regeln mögen Außenstehenden nicht viel sagen.
Kentsch allerdings müsste sie gekannt haben, als er die Unterlagen einreichte. Er ist Mitglied des DFL-Aufsichtsrates und stellvertretender Vorsitzender der Bundesliga- Stiftung, die von der DFLgegründet wurde. Warum also diese Form? Ein Funktionär sagt: „Da spielt ein hohes Maß an Selbstüberschätzung eine Rolle.“ Roland Kentsch ließ mehrfache Nachfragen von 11 FREUNDE unbeantwortet.
Dienstag, 18. Juni
Über drei Wochen haben die Fans mittlerweile Aktionen auf die Beine gestellt. Rund um das Stadion entwickelt sich eine Camp- Atmosphäre mit Mahnwachen rund um die Uhr, Lesungen und Konzerten. Eine Menschenkette zieht sich vom Rathaus bis zum Stadion. Zu Besuch kommen in dieser Zeit etliche MSV-Legenden. Günter Preuß, der Kapitän der Vizemeister-Mannschaft von 1964, erscheint beinahe täglich. Michael Tönnies, Schütze des schnellsten Hattricks der Bundesligageschichte, hat seinen ersten öffentlichen Auftritt nach einer Lungentransplantation. Innerhalb Duisburgs ist der MSV das beherrschende Thema, und worauf lange hingearbeitet wurde, was aber niemals klappen sollte, vollzieht sich nun in der schwärzesten Stunde von ganz alleine:
Fans, Stadt und Verein wachsen zusammen.
Als sich am 18. Juni knapp 2000 Fans vor der Arena versammeln und ein Lichtermeer von Kerzen entzünden, nimmt Michael Koch, Mitorganisator des Aktionsbündnisses „Streifen zeigen“ das Mikro und sagt: „Der MSV war noch nie so sexy wie heute.“
Mittwoch, 19. Juni
Das Ständige Schiedsgericht weist die Klage des MSV zurück. Es bleibt dabei: Der MSV erhält keine Lizenz für die zweite Liga.
Für Udo Kirmse, den neuen Geschäftsführer Björn Scheferling und den neuen Aufsichtsratsvorsitzenden Jürgen Marbach beginnt ein neuer Wettlauf gegen die Zeit. Es geht um die Lizenz für die Dritte Liga. Wer zynisch ist, könnte sagen: Udo Kirmse erreicht Level 2. Ging es Ende Mai um circa zweieinhalb Millionen Euro in zweieinhalb Tagen, so müssen nun in zwei Wochen um die 16 Millionen Euro her. Durch das Abrutschen in die Dritte Liga brechen allein viereinhalb Millionen Euro Fernsehgelder weg, zudem bleibt das Problem mit der hohen Stadionmiete.
16 Millionen in zwei Wochen
Doch das ist nicht alles: „Wir müssen jeden Stein umdrehen. Und unter jedem sitzt eine neue Kröte“, befindet Kirmses Team. Denn ihnen wird klar, dass ein Großteil der Sponsorenverträge für die Dritte Liga nicht gültig ist. „Das war schon eine gewisse Hochnäsigkeit – nach dem Motto: Mit Dritter Liga haben wir ohnehin nichts zu tun“, sagt Jürgen Marbach dazu später der „Rheinischen Post“. Und nicht nur das: Auch die meisten Spielerverträge sind null und nichtig. Nach und nach wandern die Kicker ab, der Kreis für den Trainer Kosta Runjaic wird immer kleiner. Niemand weiß, wie es weitergeht. Mitarbeiter der Geschäftsstelle warten auf ihr Gehalt.
Wenn es mit der Lizenz für die Dritte Liga nicht klappt, droht die Insolvenz.
„Wer nicht mitzieht, den boxe ich weg“
Einen Tag nach der Entscheidung des Schiedsgerichtes stellt sich Udo Kirmse vor die Mitarbeiter und hält eine Rede. Er sagt: „Jetzt kämpfen wir alle für die Dritte Liga, und wer nicht mitzieht, den boxe ich weg.“ Von da an trägt Kirmse den Spitznamen „Klitschko“. Er selbst gönnt sich wenig Schlaf. Wie ein Sponsor berichtet, nimmt Kirmse in diesen Tagen selbst Anrufe um zwei Uhr nachts entgegen. Da steigt er gerade aus der Sauna. Er musste nachdenken.
Am Freitag teilt die Stadt Duisburg mit, dass sie auf Teilrückzahlungen ihrer Darlehen pocht. „Die Zusagen galten explizit nur für die zweite Liga. Die Forderungen werden jetzt fällig“, sagt ein Sprecher der Stadt der „NRZ“. Der MSV müsste dann auf mindestens 1,3 Millionen Euro verzichten. Es sind noch zwei Wochen bis zur nächsten Deadline. Ein DFB-Verantwortlicher fragt Kirmse und sein Team: „Wollen Sie sich das alles wirklich antun?“
Sonntag, 23. Juni
Das gesamte Wochenende über hat die MSV-Spitze zusammen mit Wirtschaftsprüfern ein Gläubigermoratorium vorbereitet.
Am Sonntag um 17 Uhr treffen sich dann 60 Personen bei den Stadtwerken. Darunter Vertreter der Stadt, des NRW-Wirtschaftsministeriums, der HSH Nordbank. Dabei erklären sich alle Parteien bereit, auf einen Teil ihrer Forderungen zu verzichten. Außerdem springt Schauinsland-Reisen nun als Investor ein. Udo Kirmse spricht von einer „ersten Bergetappe“. Die Euphorie ist groß, es scheint, als sei das nötige Geld aufgetrieben. „Der Weg für einen Neustart ist frei“, heißt es am Dienstag auf der Homepage des Vereins.
Freitag, 28. Juni
Der DFB ist mit den eingeschickten Unterlagen des MSV nicht zufrieden. In einem Schreiben teilt der Verband seine Beanstandungen mit. Jetzt ist Udo Kirmse ausgelaugt, er läuft eine Stunde lang durchs leere Duisburger Stadion. Auch an diesem Tag haben sich wieder viele Fans davor zur Mahnwache eingefunden. Die Zukunft ist ungewiss.
Der MSV Duisburg sagt das Testspiel gegen Fortuna Köln ab, organisiert stattdessen ein Spiel der Traditionself gegen Fans.
Die Faninitiative „Streifen zeigen“ ruft zu einer Trotzreaktion auf: „Das Eintrittsgeld kann der MSV dringend gebrauchen und wir setzen damit ein Zeichen, dass wir uns vom DFB nicht in die Suppe spucken lassen. Also kommt Sonntag zur Westenderstraße! “ Über 1500 Fans pilgern hin, sie spenden dem Verein allein an diesem Tag knapp 7000 Euro.
Der Trainer tritt zurück
Trainer Kosta Runjaic kann so viel Geduld nicht mehr aufbringen. Am Sonntagabend sickert durch, dass er sein Amt niederlegt. Es wird ihm zu eng. In drei Wochen startet die Saison, der MSV hat keine Lizenz, wenig Spieler und keinen Trainer. Die „WAZ“ schreibt: „Beim MSV steht im Moment nur eins fest: die Liga-Zugehörigkeit des Vorstandes. Kreisliga!“ Der Vorstand um Udo Kirmse ist niedergeschmettert, doch genau in dieser Phase passieren wundersame Dinge. Ausgerechnet DFB-Vertreter sprechen dem Präsidenten Mut zu und zeigen in einem langen Telefonat, auf welche Nachbesserungen es ankommt. Und: Schalke 04, Borussia Dortmund und Bayern München melden sich unaufgefordert beim MSV und bieten Hilfe.
Außerdem bleiben die Stadtwerke Duisburg als Hauptsponsor an Bord. Kirmse spricht von der „zweiten Bergetappe. Die Ziellinie ist in Sichtweite.“ Donnerstag, 4. Juli Am Freitag um 15.30 Uhr läuft die DFB-Frist für die Duisburger ab. Und wieder wird es hektisch. Die Stadionprojektgesellschaft will dem MSV die Miete für die neue Saison stunden, doch der DFB fordert nach der Abberufung von Roland Kentsch einen endgültigen, vertretungsberechtigten Geschäftsführer.
Am Abend vor Lizenzabgabe wird mit dem Rechtsanwalt Dr. Jochen Vogel ein neuer Geschäftsführer der Eigentümergesellschaft eingetragen. Die Drucker rotieren. Verträge werden nochmals ausgedruckt und neu unterschrieben. Formalien in der entscheidenden Phase, und wie schon den ganzen Sommer über fehlt auch jetzt noch Geld. Der MSV muss dem DFB nachweisen, wie er eine letzte Finanzierungslücke schließen will. Am Donnerstag gelingt ein weiterer wichtiger Schritt: Städtische Betriebe halten Sitzungen ab und beschließen, den MSV durch Stundungen weiterhin zu entlasten. Es soll um einen sechsstelligen Betrag gehen. Die zugesagten Hilfen mit Freundschaftsspielen aus Dortmund und München motivieren Investoren, die Lücke zu schließen.
Hilfe aus München, Dortmund und Schalke
Allerdings bleibt ein zweites Problem: Der DFB verlangt eine Sicherheitsreserve, der MSV Duisburg muss dafür sorgen, dass Geld auf ein Treuhandkonto überwiesen wird oder Bürgschaften hinterlegt werden.
Es geht um mehrere Millionen Euro.
Der Verein bracuht Hilfe auf den letzten Metern. An diesem Punkt kommt Schalke 04 ins Spiel – vor zwei Jahren Gegner der Duisburger im Pokalendspiel und unter MSV-Fans nicht gerade wohlgelittener Revierrivale.
Anders als beim BVB und den Bayern kann Schalke allein durch einen Vorstandsbeschluss handeln und kurzfristig Geld überweisen. Die „Rheinische Post“ schreibt später, dass am Freitag vor der Lizenzabgabe eine Lücke von 500 000 Euro unter anderem auch dank der Schalker Hilfe geschlossen wurde. Das alles nur kurz vor der Deadline um 15.30 Uhr. Um 16.14 Uhr meldet der Klub, dass alle Unterlagen vollständig und fristgerecht eingereicht wurden.
Die Entscheidung des DFB-Ausschusses fällt aber erst nach dem Wochenende.
Montag, 7. Juli
Eine Viertelstunde lang dürfen die Duisburger vor dem Ausschuss in Stuttgart vorsprechen, dann müssen sie über eine Stunde draußen warten.
Was sie bis dato geleistet haben, kommt einer Herkulesaufgabe gleich: Über 100 Sponsoren mussten kontaktiert und zur weiteren Zusammenarbeit bewegt werden.
Die zweite Liga hat der MSV nicht sportlich verspielt – und auch nicht finanziell, das Geld wäre zusammengekommen.
Die Gründe waren Egomanien, Schlampigkeiten und Grabenkämpfe. Einzelne zockten bis zur letzten Minute.
Für die Dritte Liga kämpften sie dann neu aufgestellt und gemeinsam bis zur Erschöpfung. Und das wird belohnt: Um 14 Uhr schreibt Kirmse eine SMS an die Mitarbeiter. Mit nur einem Wort. „Drin!“ Der MSV erhält die Lizenz.
Eine Erlösung.
Fans ziehen sich Trikots über, hängen Schals aus dem Auto, allein bis zum Abend kaufen 600 von ihnen eine Dauerkarte. Es wirkt wie eine Aufstiegsfeier. Das Team um Kirmse und Björn Scheferling wird bei der Rückkehr am Bahnhof mit Sekt und Rosen empfangen, um kurz nach 19 Uhr treten sie vor die feiernde Masse. „Heute ist es nicht vorbei, heute geht es erst richtig los“, sagen sie. „Klitschko“ Kirmse bekommt Boxhandschuhe überreicht. 2000 Fans klatschen begeistert.
Dann singen sie: „Eine neue Liga ist wie ein neues Leben.“
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