
Dieser Text erschien auch in unserem Heft 11FREUNDE LEGENDEN – Die andere Geschichte des BVB. Es ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Richter Peter Windgätter hustet. Vor einer halben Stunde hat er das Urteil im Prozess gegen Sergej W. verkündet. Vierzehn Jahre Haft für 28-fachen versuchten Mord und das Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion. Nun, knapp dreißig Minuten später, führt Windgätter immer noch durch das Urteil. Er hat viel zu sagen. Ihm wird eine Flasche Wasser angeboten, doch er wählt eine Lutschpastille, die ihm Oberstaatsanwalt Carsten Dombert zuwirft. „Das geht immer“, sagt der Richter und redet weiter. Im Zuschauerraum sitzt jemand mit einem BVB-Schal, ein anderer in einem Deutschland-Trikot. Sie alle lachen kurz. Dann hören sie stumm weiter zu.
Es gibt viel zu bereden an diesem Herbsttag des Jahres 2018 im Sitzungssaal 130 des Dortmunder Landgerichts. Nach elf Monaten endet der Prozess gegen Sergej W., der um 14.06 Uhr hereingeführt worden ist. Äußerlich wirkt der in Russland geborene Deutsche ruhig. Auch als Windgätter sein Urteil verkündet. Vierzehn Jahre sind besser als lebenslänglich. Diese Strafe hat nämlich die Staatsanwaltschaft in der vergangenen Woche für das gefordert, was am 11.April 2017 geschah.
„Die Befürchtung war: Hier kommen gleich vier Vermummte mit einer Kalaschnikow rein und mähen alles um“
Drei mit Metallstiften gefüllte Bomben detonierten gegen 19.15 Uhr unweit des Mannschaftsbusses, der gerade von einem Hotel im Dortmunder Süden zum Westfalenstadion aufbrach, wo das Viertelfinale der Champions League gegen den AS Monaco stattfinden sollte. Ein Polizist auf einem Motorrad erlitt durch die Explosion ein Knalltrauma, derweil flogen 65 Metallstifte unkontrolliert durch die Luft. Sie schlugen in einem Haus ein – und auch im Bus. Dort saß Marc Bartra und blutete. Die Spieler waren in Panik, riefen „Weiter, weiter!“ in Richtung Busfahrer. Sie hatten Todesangst.
„Die Befürchtung war: Hier kommen gleich vier Vermummte mit einer Kalaschnikow rein und mähen alles um“, erwähnt Windgätter in der Urteilsbegründung. Für den Richter ist das bei der Urteilsfindung nur eine Nebensächlichkeit. Für ein Opfer kann es ein Albtraum sein, der es ein Leben lang begleitet.
Mehr Fragen als Antworten
Windgätter muss eine andere zentrale Frage klären: Wurde der Anschlag mit Tötungsabsicht ausgeübt? Der Angeklagte hat das bestritten, das Gericht ihm am Ende nicht geglaubt. Zu eindeutig waren die im Verfahren ermittelten Fakten. Sergej W. hatte den Anschlag von langer Hand geplant, er hatte die Bomben im richtigen Moment gezündet, er besaß nicht die Möglichkeit, die Sprengkraft der Bomben zu kontrollieren. Den Anschlag wollte er dem IS in die Schuhe schieben. Es gelang ihm zumindest für kurze Zeit. Ein Attentat schien denkbar, es gab Bekennerschreiben, auch wenn diese keinem Test standhielten. Trotz dieser schwer belastenden Details folgt der Richter dem Antrag des Staatsanwaltes nicht. Bereits früh im Verfahren hat Sergej W. ein Teilgeständnis abgelegt, er hat die Zusammensetzung der Sprengvorrichtungen erklärt und sich bei allen Opfern entschuldigt. Deswegen, sagt Windgätter, sei die Verhängung einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe in diesem Fall „nicht unerlässlich“.
Das sind die Fakten nach elf Monaten im Gerichtssaal 130 am Dortmunder Landgericht. Doch noch immer gibt es mehr Fragen als Antworten. Zum Beispiel: Was hat der Anschlag mit dem Verein gemacht? Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung. Neunzehn Monate nach den Bomben im Dortmunder Süden ist die Borussia schließlich Spitzenreiter der Bundesliga. Den ganz großen Kampf mit sich selbst, so wirkt es, hat der BVB in der Vorsaison ausgetragen. Das merkt man auch an den Zeugenaussagen. Oder besser: an den Zeugen selbst. Lediglich sieben der 18 Spieler, deren Leben damals bedroht war, sind noch in Dortmund unter Vertrag, als das Urteil verkündet wird. Mit Shinji Kagawa steht ein weiterer Businsasse ganz kurz vor dem Absprung.
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