
„Paul Gascoigne kehrt auf den Platz zurück!“ Englands Medien waren merklich aus dem Häuschen. Doch was zunächst wie eine freudige Nachricht klang, entpuppte sich bereits kurze Zeit später als Strohfeuer. Tags darauf veröffentlichte die Presse schockierende Bilder des ehemaligen Superstars. Mit einer Gin-Flasche in der Hand führte die Polizei den 57-fachen Nationalspieler aus seinem Haus und brachte ihn ins Krankenhaus. Beim Anblick der Bilder mag man kaum glauben, dass „Gazza“ erst 47 Jahre alt ist. Er ist abgemagert. Zu T‑Shirt und Shorts trägt er blaue Samtschuhe. Er wirkt apathisch. Ein weiterer Tiefpunkt im Leben eines genialen Fußballers, der an seiner Alkoholsucht zu zerbrechen scheint.
Die tickende Zeitbombe
Ein Rückblick. Anfang der neunziger Jahre verzückte Paul Gascoigne eine ganze Fußballnation mit seiner technisch brillanten Art. Der junge „Gazza“ debütierte mit 21 Jahren in der englischen Nationalmannschaft und wurde zum gefeierten Star, weil er nicht nur Genialität auf dem Platz zeigte, sondern auch außerhalb stets gute Laune verbreitete. Bei der Weltmeisterschaft 1990 in Italien wurde er zum Stammspieler und trieb gleichzeitig seinen Trainer Bobby Robson und seinen Zimmerkollegen Chris Waddle in den Wahnsinn. Für Robson war „Gazza“ eine tickende Zeitbombe. Und der vom Trainer als „hyperaktiv“ beschriebene Mittelfeldmann sorgte ständig für Ärger, indem er etwa seinen Zimmerkollegen mit den abgefahrenen Streichen den Schlaf raubte. Aber wie sollte man diesem kleinen Jungen im Körper eines Mannes böse sein, wenn er dann sein Lausbuben-Grinsen aufsetzte? Einmal streckte er während der Nationalhymne die Zunge raus, während ihn die Kamera filmte. Als Trainer Robson ihn eindringlich aufforderte, dies nicht mehr zu wiederholen, soll „Gazza“ zu Chris Waddle gesagt haben: „You do it then!“ Waddle, ganz Profi, ignorierte diesen Vorschlag. Also musste Gascoigne wieder selbst ran. „Sir“ Bobby Robson wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. Für die großen Momente sorgte der Rechtsfuß aber dennoch auf dem Platz. Unvergessen ist, wie ihm nach dem tragischen Ausscheiden im Halbfinale gegen Deutschland bei der WM 1990 die Tränen kamen. Ganz Fußballengland schloss ihn ins Herz und kürte ihn schließlich zur „BBC Sports Personality of the year“.
Es sind solche Anekdoten, die „Gazza“ unsterblich machten: Wie die legendäre Szene, in der Brutalo Vinnie Jones dem damals 20-Jährigen Jungstar mit Schmackes ins Gemächt griff. Bereits vor Spielbeginn hatte „Die Axt“ den jungen „Gazza“ mit den Worten „Me and you, fat man“ begrüßt. Später befahl er dem sichtlich eingeschüchterten Gascoigne: „Du bleibst hier stehen, während ich den Einwurf ausführe!“ Was der dann auch tat. Tage nach dem Spiel schickte Gascoigne Jones eine Rose. Der bedankte sich mit einer Klobürste.
Vier Flaschen Wein, elf Schlaftabletten, neun Brandys – Spieler des Spiels
Gazza wollte nur spielen, so schien es. Und er kannte keine Grenzen. Auf dem Platz spulte er oft die meisten Kilometer ab, an guten Tagen entschied er Spiele mit einem einzigen Hüftwackler, einem genialen Dribbling, einem Pass. Doch wenn nach Schlusspfiff gelitert wurde, war es ebenfalls „Gazza“, der sich in den Vordergrund soff. Bald griff er auch schon vor dem Spiel zur Flasche. In seinem Buch „Glorious“ beschreibt er, wie er vor einer Partie mal vier Flaschen Wein, elf Schlaftabletten und neun Brandys zu sich nahm. Tags darauf wachte er neben dem „Man of the match“-Award auf. Das Leben eines Starkalkoholikers.
Dass er immer noch am Leben ist, grenzt schon fast an ein Wunder.
Mit zunehmendem Alter häuften sich die Verletzungen, die nächtlichen Ausflüge und Eskapaden überschatteten das Talent auf dem Platz. Stets dabei: die Boulevardpresse. Dass die Medien in seinem Leben eine wichtige Rolle spielen würde, ahnte schon der große George Best, als er zu Beginn von „Gazzas“ Karriere dunkel prognostizierte: „Ich hoffe, er hat Freude am Fußball spielen und wird nicht von der Presse zerstört“.
Kein Geld für die Klinik
Paul Gascoigne steht wie kaum ein anderer für den rasanten Absturz einer Fußballlegende. Dennoch ist die Bewunderung für den Fußballer „Gazza“ in England immer noch deutlich zu spüren. Nur so lässt es sich erklären, dass in den Jahren nach seiner Karriere derart viele Ex-Kollegen dem Genie zur Seite standen, wenn er wieder einmal zur Flasche griff. Als er vor ein paar Jahren mal wieder einen Zusammenbruch erlitt, berappten u.a. Wayne Rooney, Frank Lampard und Jack Wilshire das nötige Kleingeld für den Aufenthalt in einer Entzugsklinik in den USA. Steven Gerrard forderte den englischen Fußball-Verband auf, den auch finanziell ausgebrannten Gascoigne zu unterstützen. Die FA kam dem Wunsch den Liverpool-Kapitäns nach.
Nun erlebt die Öffentlichkeit ein weiteres trauriges Kapitel im Leben von „Schottlands Fußballer des Jahres 1996“. „Gazzas“ Bruder im Geiste, George Best, der im Jahr 2005 den Folgen seiner Alkoholsucht erlag, sagte einst in einem Interview mit Verweis auf sein eigenes legendäres Zitat: „Ich hoffe, dass er nicht trinkt, keine schnellen Autos fährt, nicht mit Frauen schläft und nicht nach 23 Uhr das Haus verlässt“. Paul Gascoigne hat nichts davon beherzigt, aber die Liebe zum Fußball steckt immer noch in ihm. Nur so lässt es sich erklären, dass er mit 47 Jahren noch einmal für ein Sunday League Team auflaufen wollte. Er soll sich von einem Taxifahrer, der gleichzeitig als Manager des Amateurklubs Abbey Windows FC fungiert, überreden, einen Vertrag für acht Pfund pro Woche zu unterschreiben. „Paul Gascoigne kehrt auf den Platz zurück!“
Aus dem Lausbuben ist eine Maske geworden
Wenige Tage nach der Vertragsunterschrift stand die Polizei vor Gascoignes Tür, weil sich die Nachbarn über den Lärm in seiner Wohnung beschwert hatten. Da stand er dann: In blauen Samtschuhen, das einstige Lausbubengesicht zu einer aufgequollenen Maske verzerrt. Die traurige Gestalt eines Mannes, den die Sucht mit Haut und Haaren zu verschlingen scheint.
Paul Gascoigne zurück auf dem Platz? Wohl kaum. Paul Gascoigne zurück im Leben! Trocken! Das wäre mal eine Meldung.
ncG1vNJzZmhpYZu%2FpsHNnZxnnJVkrrPAyKScpWeppMJurc2dZKadXZuutXnMmqVobGhmhnOB